Kommen wir nie wieder raus aus der Dehnbundphase? Vielleicht. Aber das macht nichts. Denn viele große Revolutionen der Mode handelten von Bequemlichkeit. Ein Essay von Carmen Böker
32 Grad, 33 Grad, 34 Grad. Bei der Wettervorhersage für die nächsten Tage hätte sich in anderen Jahren unweigerlich die Frage gestellt: Was zieh ich bloß im Büro an? Doch ob Strumpfhosen ein Must sind für den korrekten Office-Look, ob man in Anzug, Hemd und Krawatte schon auf dem Weg zum Arbeitsplatz einen Hitzeschock riskiert, ob Flipflops erlaubt sind oder eine stilistische Entgleisung darstellen – diese Entscheidungen müssen von vielen Menschen derzeit nicht getroffen werden.
Denn wer im Homeoffice arbeitet, kann das theoretisch auch im Bikini oder Badehose tun. Einzig für Videokonferenzen braucht man korrekte Oberbekleidung, beim Rest dürfte man Wahllosigkeit walten lassen, beziehungsweise: Gemütlichkeit. Eine Umfrage des US-amerikanischen Marktforschungsinstituts NPD hat ergeben, dass derzeit nur zehn Prozent der Angestellten in den USA beim Homeoffice zwischen Arbeits- und Freizeitkleidung unterscheiden. Heißt übersetzt: Die große Mehrheit zieht an, was bequem ist und nicht drückt beim langen Sitzen vor dem Bildschirm. Das ist dann eher die Sporthose als der Bleistiftrock, lieber etwas mit elastischem Bund als ein fester Gürtel in der Taille – und die Jogginghose entwickelt sich in diesen Tagen endgültig zum Klassiker, zur Uniform.
Hat Corona also auch die Mode unwiederbringlich verändert – oder ist sie nur gerade im Lockdown, in Quarantäne? Zumindest ist gerade nicht viel übrig von der Grundidee der Mode. Sie besteht ja jenseits aller Stildiskussionen schlicht darin, dass ein Kleidungsstück eine Zeitlang als modisch gilt – und für diese Wahrnehmung ein Gegenüber braucht, das das Einhalten, das Bedienen des Trends bestätigt. Ohne diese Öffentlichkeit, ohne eine Verabredung zur Inszenierung funktioniert das System nicht besonders gut. Das wird jede merken in dem glanzlosen Moment, da sie ein neues Kleid, bereits verknittert, aus einem Pappkarton zieht und auf einen Bügel am Schrank hängt, für irgendwann mal. Auch der Videocall kann keine Bühne bieten, denn er lässt die feinen Unterschiede verschwinden, die in der Realität so entscheidend sein können. Primark oder Prada? Auf Zoom total egal!
Das kann befreiend sein, vor allem für diejenigen, die finden, dass sie in ihrer Jugend immer nur die zweitbeste Jeansmarke von ihren Eltern bewilligt bekommen haben, und die jetzt als Erwachsene ständig zu spät dran sind für den nächsten Insider-Sneaker. Gegenwärtig geht es nicht um Marken und nur sehr wenig um Distinktion. Man kann also gar nicht das uncoole kid in town sein.